§
12 StGB
Bei der Einteilung der Straftaten in Verbrechen und Vergehen kommt es auf die im Gesetz
angedrohte Regelfreiheitsstrafe an. Gleichgültig ist, ob die Tat vollendet oder lediglich
versucht wurde. Auch der Versuch eines Verbrechens ist ein Verbrechen. Für die
Qualifizierung als Verbrechen oder Vergehen ist unerheblich, zu welcher Strafe der Täter
tatsächlich verurteilt wird.
Beispiel
A wurde wegen Raubes in einem minder schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von sechs
Monaten verurteilt. Hat A ein Verbrechen oder ein Vergehen begangen?
Gemäß § 249 StGB wird der Räuber mit Freiheitsstrafe
nicht unter einem Jahr bestraft. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe
von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Da für Raub im Regelfall Freiheitsstrafe von
mindestens einem Jahr angedroht ist, hat A ein Verbrechen begangen.
§
249 StGB
Vom Gesetz vorgesehene unbenannte Strafmilderungen oder Strafschärfungen, ändern den
Deliktscharakter nicht. Für die Einteilung der Straftaten in Verbrechen oder Vergehen
sind solche Milderungen oder Schärfungen unerheblich.
Beispiel
A wurde wegen eines besonders schweren Falles der Nötigung (§ 240 StGB) zu
Freiheitsstrafe von vier Jahren bestraft. Hat A ein Verbrechen begangen?
Nötigung wird gemäß § 240 StGB im Regelfall mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Sie liegt im Mindestmaß
also unterhalb eines Jahres. Dies gilt auch für die Mindeststrafandrohung der
Regelbeispiele der im § 240 Abs. 4 Ziff. 1 bis 4 aufgeführten besonders schweren Fälle.
Folglich hat A kein Verbrechen, sondern ein Vergehen begangen.
§
240 StGB
Dagegen ändert sich der Deliktscharakter, wenn das Gesetz benannte
Strafverschärfungen oder Strafmilderungen anordnet.
Beispiel
A hat Frau B gegen ihren Willen drei Wochen lang eingesperrt. Hat A ein Verbrechen oder
ein Vergehen begangen?
Gemäß § 239 StGB ist Freiheitsberaubung mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bedroht. Da eine Freiheitsstrafe
möglich ist, die im Mindestmaß unterhalb eines Jahres liegt, ist Freiheitsberaubung
normalerweise ein Vergehen.
§
239 StGB
Jedoch ist gem. § 239 Abs. 3 StGB u.a. auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn
Jahren zu erkennen, wenn der Täter das Opfer länger als eine Woche der Freiheit beraubt.
Bei der im § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB aufgeführten Tathandlung handelt es sich um eine
im Gesetz ausdrücklich benannte Strafverschärfung, die Auswirkung auf den
Deliktscharakter hat.
Genau genommen handelt es sich bei der Regelung des § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB um einen
eigenen Straftatbestand.
Die Strafverschärfung tritt nicht nur deshalb ein, weil das Gesetz für
"besonders schwere Fälle" eine höhere Strafe zulässt. Vielmehr ordnet das
Gesetz genau an, welche Qualifizierungen gegeben sein müssen, damit mindestens ein Jahr
Freiheitsstrafe verhängt werden kann. In solchen Fällen handelt es sich um Verbrechen.
Benannte Strafverschärfungen oder Strafmilderungen ändern folglich den
Deliktscharakter.
02 Bedeutung für die polizeiliche Praxis
TOP
Die Kenntnis der Kriterien, die für die Einteilung einer Tat als Verbrechen oder
Vergehen maßgeblich sind, hat aus folgenden Gründen praktische Bedeutung:
- Die Polizei muss in jeder Lage den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit beachten. Es liegt auf der Hand, dass im Falle von Verbrechen
intensivere polizeiliche Maßnahmen in Betracht kommen, als im Falle von Vergehen.
- Dies gilt insbesondere für den Einsatz der Schusswaffe. In den
Polizeigesetzen aller Bundesländer sind Regelungen enthalten, die in bestimmten Fällen
den Einsatz der Schusswaffe zulassen. Zugelassen ist der Einsatz der Schusswaffe in allen
Bundesländern zum Beispiel dann, wenn der Schusswaffengebrauch erforderlich ist, um eine
Person anzuhalten, die eines Verbrechens dringend verdächtig ist.
Beispiel
Ein Pole hat in einer Gaststätte den E geohrfeigt. E hat die Polizei gerufen und
verlangt, dass der Täter dafür mit der ganzen Härte des Gesetzes zur Verantwortung
gezogen werden soll. Polizeibeamte stellen vor Ort anhand des Passes die Personalien des
Täters (T) fest. T hat im Inland keinen festen Wohnsitz. Dürfen die Beamten den T
vorläufig festnehmen und dem Richter vorführen?
Gemäß § 127 Abs. 2 StPO darf eine Person vorläufig
festgenommen werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- dringender Tatverdacht
- Haftgrund
- Gefahr im Verzuge
- Verhältnismäßigkeit.
§
127 StPO
Dringender Tatverdacht ist gegeben. Fraglich ist allerdings, ob ein Haftgrund besteht.
In Betracht kommt allenfalls Fluchtgefahr. Dann müssten Tatsachen die Annahme
rechtfertigen, dass sich der Pole dem Strafverfahren entziehen werde. Tatsache ist, dass
der Pole in der Bundesrepublik keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat. Dieser Umstand
spricht in der Regel für Fluchtgefahr. Jedoch kann der Verdächtige in solchen Fällen
durch Sicherheitsleistung seine Festnahme abwenden (§ 127 a StPO). Ob der Pole zur
Sicherheitsleistung bereit ist oder nicht, teilt der Sachverhalt nicht mit. Unterstellt
man, dass er zur Sicherheitsleistung nicht bereit ist, wären die begrifflichen Merkmale
des Haftgrundes Fluchtgefahr gegeben.
Jedoch müsste die vorläufige Festnahme verhältnismäßig sein. Laut Sachverhalt hat
der Pole einen anderen geohrfeigt. Damit hat er die Merkmale einer Körperverletzung
erfüllt (§ 223 StGB).
Für Körperverletzung droht das Gesetz eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe an. Der Versuch ist strafbar. Die Tat ist ein Vergehen. Allerdings ist eine
Körperverletzung gem. § 223 StGB ein Antragsdelikt (§ 230 StGB), es sei denn dass die
Staatsanwaltschaft wegen besonderen öffentlichen Interesses ein Einschreiten von Amts
wegen für geboten erachtet. Wegen einer Ohrfeige in einer Gaststätte, wird öffentliches
Interesse nicht gegeben sein. Allerdings kann der Geschädigte die Tat gem. § 374 StPO
auf dem Privatklageweg verfolgen. Dazu benötigt er die Personalien, die bereits
festgestellt sind. Da es sich offensichtlich nur um ein leichtes Vergehen handelt, wäre
eine vorläufige Festnahme wohl unverhältnismäßig.
Beispiel
Bei der Auseinandersetzung hat der Pole dem E mit einer abgeschlagenen Flasche ins Gesicht
geschlagen. Dabei hat der E ein Auge verloren. Dürfen die Beamten den Polen nach
Feststellung der Personalien vor Ort vorläufig festnehmen?
Bei dieser Fallkonstellation hat der Verdächtige den
Tatbestand der schweren Körperverletzung (§ 226 StGB) erfüllt. Weil die angedrohte
Regelfreiheitsstrafe im Mindestmaß ein Jahr ist, handelt es sich um ein Verbrechen. Die
Tat ist von Amts wegen zu verfolgen. Hat jemand ein Verbrechen begangen, stehen Gründe
der Verhältnismäßigkeit einer vorläufigen Festnahme grundsätzlich nicht mehr
entgegen. Da dringender Tatverdacht und ein Haftgrund gegeben sind, darf der Pole
vorläufig festgenommen und dem Richter vorgeführt werden.
Beispiel
Ein Polizeibeamter will einen Pkw-Fahrer überprüfen, der im Parkverbot steht. Als der
Beamte an das Fahrzeug herantritt, startet der Fahrer den Pkw, öffnet die Tür, sticht
mit voller Wucht dem Beamten einen Dolch in die Schulter und gibt Gas. Sofort zieht der
Beamte seine Pistole und schießt auf den Fahrer, um ihn an der Flucht zu hindern. Der
Fahrer wird im Rücken getroffen und kann festgenommen werden. War der
Schusswaffengebrauch rechtmäßig?
Damit der Schusswaffengebrauch rechtmäßig ist, müssen die
Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch beachtet worden sein.
Die Polizeigesetze in allen Bundesländern lassen u.a. den Einsatz der Schusswaffe zu,
wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben einer Person
erforderlich ist. Diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht mehr gegeben, weil der
Angriff gegen den Beamten bereits vor der Abgabe des Schusses beendet war und nicht mehr
davon ausgegangen werden kann, dass der Flüchtende mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit jeden Augenblick erneut Personen angreifen wird.
Der Schusswaffengebrauch ist aber auch zulässig, um eine Person anzuhalten, die sich
der Festnahme durch Flucht zu entziehen versucht, wenn sie dringend verdächtig ist, ein
Verbrechen begangen zu haben. Denkbar ist, dass der Täter lediglich vorsätzlich eine
gefährliche Körperverletzung begehen wollte. Eine gefährliche Körperverletzung ist ein
Vergehen. Denkbar ist aber auch, dass der Fahrer den Beamten töten wollte. Unter diesem
Gesichtspunkt käme versuchter Mord oder Totschlag in Betracht (§§ 211, 212 StGB). Mord
und Totschlag sind Verbrechen, weil die angedrohte Regelfreiheitsstrafe im Mindestmaß ein
Jahr oder höher ist. Auch der Versuch eines Verbrechens ist ein Verbrechen.
Laut Sachverhalt hat der Täter dem Beamten mit voller Wucht einen Dolch in die
Schulter gestoßen. Genau so gut hätte er den Brust- oder Halsbereich treffen können.
Wer eine solche Handlung begeht, muss damit rechnen, dass das Opfer dadurch getötet
werden kann. Nimmt der Täter solche Folgen in Kauf, handelt er zumindest mit
Eventualvorsatz. Eventualvorsatz reicht im Zusammenhang mit Mord (§ 211 StGB) und
Totschlag (§ 212 StGB) aus. Folglich besteht der dringende Verdacht, dass der Täter
einen versuchten Mord oder einen versuchten Totschlag begangen hat. Er ist somit eines
Verbrechens dringend verdächtig. Damit sind (nach den Polizeigesetzen) die
Voraussetzungen für den Schusswaffengebrauch erfüllt.